Kurz bevor die großen Sommerferien starteten und die Phase der Einschulung in wenigen Wochen bevorstand, rückten die Meldungen über Sprachförderbedarfe bei Kindern wieder verstärkt in den Fokus der Berichterstattung. Die aktuellsten öffentlichen Zahlen der Schuleingangsuntersuchungen zeigen, dass zum Schuljahr 2022/2023 jedes dritte Kind (32,9%) in Berlin einen Sprachförderbedarf aufwies. Zum Vergleich: 2013 lag dieser Anteil noch bei 25,5%. Eine Datenauswertung des rbb gemeinsam mit Correctiv.Lokal verdeutlicht zudem große Differenzen zwischen den einzelnen Bezirken. Während in Kreuzberg-Nord bei 59,7% der Kinder ein Sprachförderbedarf festgestellt wurde - womit dieser Kiez Spitzenreiter ist - hatten in Reinickendorf-Nord nur 11% er angehenden Erstklässler:innen Sprachdefizite.
Doch der hohe Sprachförderbedarf bei Kindern ist nicht auf Berlin beschränkt, sondern ein länderübergreifendes Phänomen. So hat in Hamburg die Sprachtestung von Viereinhalbjährigen für das Schuljahr 2023/2024 ergeben, dass 31,7% der Kinder einen Förderbedarf in diesem Bereich haben. In Baden-Württemberg lag der Anteil unter den angehenden Erstklässler:innen für das Schuljahr 2022/2023 bei 27,4%. In Bayern zeigte die erstmals landesweit durchgeführte Sprachstandserhebung bei Vierjährigen, dass rund jedes fünfte Kind betroffen ist. Und auch mit dem Eintritt in das Schulsystem nimmt der Anstieg der Sprachförderbedarfe kein Ende, da Sprache die Grundvoraussetzung ist, um dem Unterricht angemessen folgen zu können - unabhängig von der Fachrichtung. Starten Kinder bereits mit Sprachdefiziten in die Schule, werden sie schnell abgehängt. Zeit, um diese Rückstände im regulären Unterricht aufzuholen, fehlt meist. Aus diesem Grund sind sowohl die Analyse möglicher Ursachen als auch eine frühzeitige und qualitativ hochwertige Sprachförderung inzwischen unerlässlich.
Die Ursachen für den gestiegenen Sprachförderbedarf bei Kindern sind multifaktoriell und wissenschaftlich noch nicht abschließend geklärt. In gesellschaftlichen Debatten wird diese Entwicklung nicht selten mit einer steigenden Zahl von Kindern mit Migrationshintergrund erklärt. Doch diese Begründung greift bei weitem zu kurz.
Die Schuleingangsuntersuchung für das Schuljahr 2022/2023 im Bezirks Berlin-Mitte verdeutlicht exemplarisch, wie komplex die Ursachen sind. Dort wiesen 47,5% der Kinder Sprachdefizite auf - knapp 15 Prozentpunkte über dem berlinweiten Durchschnitt. Von ihnen stammten 77,2% aus Familien mit niedrigem sozialen Status und nur 24,3% aus Familien mit hohem sozialen Status. 61,0% der Kinder mit Sprachförderbedarf hatten einen täglichen Medienkonsum von mehr als einer Stunde, während es bei maximal einer Stunde lediglich 37,9% waren. Die Daten zeigen außerdem: ein längerer Kita-Besuch verringert das Risiko für Sprachdefizite. So hatten 83,5% der Kinder mit Sprachdefiziten höchstens zwei Jahren oder gar keine Kita besucht, während unter den Kindern mit einer Kitabesuchsdauer von mehr als zwei Jahren nur 40,2% Sprachdefizite aufwiesen.
Blicken wir nun nur auf den Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund, zeigt sich ein ähnliches Bild: Berlinweit hatten 41,4% der Kinder mit Migrationshintergrund Defizite in der deutschen Sprache, in Berlin-Mitte 54,7%. Unter den Kindern mit Migrationshintergrund aus Familien mit niedrigem sozialen Status in Berlin-Mitte verfügten lediglich 24,1% über gute bis sehr gute Deutschkenntnisse. Bei Kindern aus Familien mit hohem sozialen Status lag dieser Anteil dagegen bei 66,1%. Und auch die Dauer des Kitabesuchs hat hier einen erheblichen Einfluss: Nur 14,1% der Kinder mit Migrationshintergrund, die maximal zwei Jahren eine Kita besucht hatten, wiesen gute bis sehr gute Deutschkenntnisse auf. Bei Kindern mit Migrationshintergrund, die länger als zwei Jahre in einer Kita waren, stieg der Anteil dagegen auf 53,3%.
Daraus lässt sich schließen, dass sowohl der Sozialstatus als auch die Dauer des Kitabesuchs erhebliche Auswirkungen auf die Sprachfähigkeit von Kindern haben. Wird dem nicht frühzeitig entgegengewirkt, drohen langfristige Folgen für Bildungs- und Lebensweg: Kinder starten mit Sprachdefiziten in die Schule, können dem Unterricht nur schwer folgen, erzielen dadurch schlechtere Leistungen - und haben später geringere berufliche Chancen. Besonders Kinder aus Familien mit niedrigem sozialen Status laufen so Gefahr, in einen Teufelskreis zu geraten, der sich auch weiter auf die nächste Generation übertragen kann.
Doch Sprachdefizite hemmen Kinder nicht nur im schulischen Kontext, sondern auch in der Entwicklung ihrer persönlichen Stärken und Potenziale. Denn über Sprache treten sie mit der Umwelt in Kontakt, können Erlebtes ausdrücken, reflektieren, darüber sprechen und es besser verstehen. Sprache beeinflusst zudem die kognitive Entwicklung: Je differenzierter wir Sprache beherrschen, desto differenzierter sind auch unsere Gedanken und desto besser können wir komplexe Zusammenhänge verstehen und Lösungen für Probleme finden. Außerdem ermöglicht es die Sprache, Beziehungen aufzubauen, soziale Interaktionen zu gestalten, Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken und aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Wie wichtig Sprache ist, ist längst kein Geheimnis mehr - ebenso wenig wie der wachsende Sprachförderbedarf bei Kindern. Deshalb gibt es sowohl auf Landes- als auch Bundesebene große Anstrengungen, um Kinder frühzeitig sprachlich zu fördern.
In Berlin wurde mit dem Kitajahr 2025/2026 das “Kita-Chancenjahr” eingeführt. Es verpflichtet Kinder, die keine Kita besuchen und bei einer obligatorischen Sprachstandserhebung im Alter von 4,5 Jahren Sprachdefizite aufweisen, mindestens ein Jahr vor Einschulung ein Angebot zur Sprachförderung für jeweils 35 Wochenstunden wahrzunehmen. Hintergrund dieser Maßnahme ist, dass in Berlin etwa 80% der Nicht-Kita-Kinder einen Sprachförderbedarfe haben.
Auf Bundesebene wurde bereits kurz nach der Bildung der Koalition deutlich, dass die Sprachförderung einen besonderen Schwerpunkt in der Politik des Ministeriums für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend unter Ministerin Karin Prien einnehmen wird. Karin Prien betonte bereits in den Anfängen der aktuellen Regierungszeit mehrfach, wie wichtig es sei, Kinder in diesem Bereich angemessen zu unterstützen und den Kitas die notwendigen Rahmenbedingungen für eine bedarfsgerechte Sprachförderung zu ermöglichen. Fest verankert wurde dieses Anliegen im Koalitionsvertrag mit der geplanten Einführung einer verpflichtenden Diagnostik des Sprach- und Entwicklungsstandes aller Vierjährigen. Bei festgestelltem Förderbedarf sollen anschließend verpflichtende Sprachfördermaßnahmen durch die Länder greifen. Zudem soll das Konzept der Sprach-Kitas fortgeführt und weiterentwickelt werden, während gleichzeitig das Startchancenprogramm für Schulen nun auch auf Kitas ausgeweitet werden soll. Beide Maßnahmen sollen im Rahmen des Kita-Qualitätsentwicklungsgesetzes zusätzlich gefördert werden. Und auch in der Verteilung des Sondervermögens für Infrastruktur und Klimaneutralität wird die Stärkung der frühkindlichen Bildung als ein Schwerpunkt deutlich: Insgesamt 3,76 Milliarden Euro sind aus diesem Sondervermögen für 2026 bis 2029 zugesichert worden. Hinzu kommen 1,993 Milliarden Euro im Jahr 2026 über das Kita-Qualitätsentwicklungsgesetz sowie eine Erhöhung der finanziellen Mittel für den Kinder- und Jugendplan um 7,5 Millionen Euro auf insgesamt 251,3 Millionen Euro.
Dies zeigt, dass das Bewusstsein für die Bedeutung frühkindlicher Bildung und Förderung zunehmend wächst - und sich nicht nur in öffentlichen Diskursen, sondern auch in der politischen Prioritätensetzung niederschlägt. All dies sind entscheidende Schritte, um allen Kindern einen guten Start ins Leben sowie Bildungs- und Chancengerechtigkeit zu ermöglichen und ihnen durch die Förderung der Sprache den Schlüssel zur Welt an die Hand zu geben. Es sind Maßnahmen und Investitionen in die Zukunft der Kinder, der Gesellschaft und unseres Landes.
Nun kommt es jedoch darauf an, den Worten auch Taten folgen zu lassen: Die angekündigten Maßnahmen müssen durch eine langfristige und auskömmliche Finanzierung nachhaltig in der Kita-Landschaft Deutschlands etabliert werden. Nur so kann verhindert werden, dass frühzeitige Sprachförderung - und damit die Zukunft der Kinder - Haushaltseinsparungen zum Opfer fällt und die Bemühungen nach wenigen Jahren ins Leere laufen. Ebenso benötigt es einheitliche, an wissenschaftlichen Empfehlungen orientierte Qualitätsstandards, damit alle Kinder - unabhängig von der Region - Zugang zu hochwertiger Sprachförderung erhalten.
Quellen:
Grote, S., Haaga, M., & Kittelberger, T. (2024). KINDERGESUNDHEIT IM LANDKREIS TÜBINGEN: Ergebnisse der Einschulungsuntersuchung vor und nach der Corona-Pandemie. In Landkreis Tübingen, Landkreis Tübingen [Report]. Landkreis Tübingen. https://www.gesundheitsamt-bw.de/fileadmin/LGA/_DocumentLibraries/SiteCollectionDocuments/01_Themen/GesundheitsdatenBerichte/Kommunale_GBE/ESU-Bericht_2024.pdf
Heckt, M., Hildenbrand, C., & Carsten Thun. (2024). Vorstellungen viereinhalbjähriger Kinder. https://ifbq.hamburg.de/wp-content/uploads/sites/803/2025/02/Bericht-VVV23_24_2411_IfBQ.pdf
Bezirksamt Mitte von Berlin. (2024) Einschulungsuntersuchungen Berlin-Mitte Schuljahr 2022/2023 Faktenblatt 2: Soziales Umfeld und soziale Integration.
Bezirksamt Mitte von Berlin. (2024). Einschulungsuntersuchungen Berlin-Mitte Schuljahr 2022/2023 Faktenblatt 5: Gesundheit und Entwicklung.
Karin Prien: Wir stärken Kinder, Familien und Bildung. (2025). BMBFSFJ. https://www.bmbfsfj.bund.de/bmbfsfj/aktuelles/presse/pressemitteilungen/karin-prien-wir-staerken-kinder-familien-und-bildung-268286.
Sprachtest für Vierjährige: Rund jedes fünfte angehende Vorschulkind fällt durch. (2025) News4teachers. https://www.news4teachers.de/2025/07/sprachtest-fuer-vorschulkinder-rund-jedes-fuenfte-kind-faellt-durch/.
Meyer A. (2025) Schulanfänger in Berlin haben oft große Sprachdefizite. (n.d.). Rbb24 Website. https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2025/08/grosse-sprachdefizite-bei-berliner-schulanfaengern.html.
CDU, CSU, SPD. (2025). Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD [Report]. https://www.koalitionsvertrag2025.de/sites/www.koalitionsvertrag2025.de/files/koav_2025.pdf.