Wie sieht frühkindliche Bildung in anderen Teilen der Welt aus? Wie gestalten andere Länder ihre Bildungssysteme? Welchen Stellenwert nimmt frühkindliche Bildung dort ein? Welche pädagogischen Schwerpunkte und Ziele prägen den Kita-Alltag? Welche Herausforderungen bewegen pädagogische Fachkräfte dort? Und welche inspirierenden Ansätze können wir davon vielleicht mitnehmen?
Mit unserer “Kita-Weltreise” suchen wir regelmäßig Antworten auf genau diese Fragen und werfen dafür regelmäßig einen Blick über die Ländergrenzen hinweg.
Dieses Mal nehmen wir euch mit nach Rumänien - beziehungsweise: Unser Mitglied Kleiner Fratz nimmt euch mit. Denn das Leitungsteam von Kleiner Fratz war im Mai in der Stadt Oradea unterwegs und hat sich intensiv mit dem rumänischen Kita-System auseinandergesetzt. Ihre Reise haben sie in Kooperation mit der Asociatia Filantropia Oradea, einer gemeinnützigen diözesanen Organisation, umgesetzt, die das Team vor Ort begleitet hat. Gemeinsam wurden verschiedene Bildungseinrichtungen besucht - von Kindergärten und Schulen über Nachmittagsbetreuung bis hin zu einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen.
Deshalb: Seid gespannt auf die Reise nach Oradea - gemeinsam mit Kleiner Fratz.
Oradea - eine Stadt der Vielfalt
Oradea liegt im Nordwesten des Landes, nur etwa 13 km von der ungarischen Grenze entfernt. Die Stadt zählt rund 183.000 Einwohner, davon 70% Rumänen, 23% Ungarn, 2% Roma, Deutsche und Slowaken. Mit 50% ist die Bevölkerung überwiegend orthodox. 25% gehören dem römisch-katholischen Glauben an, 16% sind griechisch-katholisch, 8% protestantisch und etwa 1% gehören anderen Glaubensgemeinschaften an.
Mit klarer Struktur durch den Bildungsalltag
In Rumänien beginnt die Schulpflicht erst mit acht Jahren. Vorgeschaltet ist jedoch ein verpflichtendes Vorbereitungsjahr, eine sogenannte Beginnerklasse. Frühkindliche Bildung ist freiwillig, gilt jedoch als nahezu unverzichtbar für einen erfolgreichen Einstieg in die sogenannte Vorbereitungsklasse.
Bereits der erste Besuch einer rumänischen Bildungseinrichtung - einer Grundschule - machte deutlich: Struktur spielt eine zentrale Rolle. Mit jedem weiteren Besuch einer Bildungseinrichtung festigte sich dieser Eindruck: Von den Kindergärten bis zur Schule zeigt sich überall ein stark strukturierter Alltag. Grit Nierich, , Geschäftsführerin von Kleiner Fratz und erste Vorsitzende des VKMK, beschreibt: “Viele Aktivitäten sind eher frontal gestaltet, und es gibt regelmäßig Angebote, die stark an einen klassischen Lehrplan erinnern”. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt im Betreuungsschlüssel, wie Grit weiter erklärt: “Das frontale Angebot ist vor allem dem Erzieherschlüssel von 1:20 geschuldet. Das stellt natürlich eine Herausforderung im Alltag dar - besonders, wenn es um die individuelle Begleitung und Unterstützung der Kinder geht.”. Denn obwohl frühkindliche Bildung in Rumänien als essentiell für einen gelungenen Schulstart gilt, mangelt es vielerorts an notwendigen Ressourcen - sowohl personell als auch materiell und finanziell. Eine klare Strukturierung scheint daher notwendig, um den pädagogischen Anforderungen dennoch gerecht werden zu können. Doch trotz des hohen Personalschlüssels und den damit einhergehenden Herausforderungen fiel Grit Niereich eines besonders auf: “Was mir besonders positiv aufgefallen ist, war die hohe Motivation für den Beruf der pädagogischen Fachkraft. Man hat ihnen den Spaß an ihrer Arbeit und am Umgang mit den Kindern wirklich gespürt und gesehen.“
Ein Gespräch über Qualifikation und Anspruch
Im Rahmen ihrer Reise traf das Leitungsteam von Kleiner Fratz auch eine Vertreterin der zuständigen Aufsichtsbehörde, die mit der Kita-Aufsicht vergleichbar ist. In einer gemeinsamen Austauschrunde erläuterte sie die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, die erfüllt sein müssen, um in Rumänien als pädagogische Fachkraft tätig zu werden. Für rumänische Staatsbürger:innen gibt es dabei grundsätzlich zwei Wege: Entweder über einen erfolgreichen Abschluss an einem pädagogischen Lyzeums mit Spezialisierung auf “Frühkindliche Bildung” oder über ein Hochschulstudium im Studienfach “Frühkindliche Bildung”. Wer im sonderpädagogischen Bereich arbeiten möchte, muss zusätzlich ein Sonderpädagogik-Modul mit Zertifikat absolvieren sowie ein einjähriges Praktikum unter der Anleitung eines erfahrenen Mentors im sonderpädagogischen Bereich.
Inklusion im Aufbau
“Inklusion steckt in Rumänien noch in den Anfängen.” beschreibt Grit Niereich ihre Eindrücke von diesem Aspekt der frühkindlichen Bildung in Rumänien. Die Auseinandersetzung mit beeinträchtigten Menschen und ihren Bedürfnissen findet offiziell vielerorts kaum bis gar nicht statt - das Thema ist nach wie vor häufig tabuisiert. Es gibt jedoch private, gemeinnützige Initiativen, die sich um Kinder , Jugendliche und Erwachsene mit Beeinträchtigungen kümmern, entstanden oftmals aus einem privaten, familiären Kontext. Zwar nehmen Kinder mit Behinderungen grundsätzlich an Bildungsangeboten teil, doch ihre individuellen Bedürfnisse werden dabei meist nicht ausreichend berücksichtigt. Erschwert wird Inklusion zusätzlich durch Lücken in der Diagnostik, wie Grit Nierich beobachtete: “Beeinträchtigungen werden häufig nicht differenziert genug erfasst, und besonders auffällig ist, dass in den meisten Fällen Autismus diagnostiziert wird.” Ohne präzise Diagnosen ist jedoch keine bedarfsgerechte Förderung möglich. Umso bedeutender ist das Engagement einzelner Eltern, die selbst Berührungspunkte oder Erfahrungen mit Beeinträchtigungen haben und sich aktiv für Inklusion einsetzen - etwa durch die Gründung einer Einrichtung für Kinder mit Down-Syndrom.
Trotz dieser Herausforderungen bei der Inklusion von Kindern mit Behinderungen gelingt es Rumänien zunehmend, die kulturelle Vielfalt des Landes in das Bildungssystem zu integrieren. Wie bereits deutlich wurde, ist das Land in dieser Hinsicht sehr divers. Doch auch hier zeigt sich, wie eng Inklusion mit kontinuierlicher Arbeit, Selbstreflexion und Empathie verbunden ist: “Insbesondere die Integration von Romafamilien ist nicht immer leicht und erfordert viel Engagement und Sensibilität.” erklärt Grit Nierich. Kulturelle Traditionen führen bei Roma-Kindern häufig zu unregelmäßigen Schulbesuchen. In der Folge drohen Sanktionen wie der Entzug von Sozialleistungen, was die oftmals ohnehin belasteten Lebenssituationen dieser Familien zusätzlich erschwert. Aus diesen Erkenntnissen zieht Grit Nierich wertvolle Impulse für ihre eigene Arbeit in Deutschland mit: “Meine Reise hat mir ein tieferes Verständnis für Familien aus Rumänien vermittelt - insbesondere auch für Romafamilien, die hier in Deutschland leben. Durch die Einblicke, die ich vor Ort gewinnen durfte, kann ich viele Hintergründe nun besser einordnen und dieses Wissen gezielt in meine Arbeit einfließen lassen.”
Sprachenvielfalt in der Kita
Die kulturelle Vielfalt spiegelt sich auch in der aktiven Förderung von Mehrsprachigkeit wider. Während ihrer Reise besuchte das Leitungsteam von Kleiner Fratz zwei Kindergärten, in denen es eigene deutschsprachige Gruppen gibt - in einem davon sogar auf expliziten Wunsch der Eltern. Das zeigt den hohen Stellenwert, welchen Mehrsprachigkeit im rumänischen Bildungssystem einnimmt, sowie den Wunsch, sie gezielt zu fördern.
Der Kindergarten Nr. 45 betreut und fördert rund 320 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren. Die andere Einrichtung, der Kindergarten “Roman Ciorogariu”, zählt etwa 235 Kinder. Jede Gruppe besteht hier aus etwa 30 Kindern, die von jeweils zwei Erzieher:innen begleitet werden. Besonders bemerkenswert ist die Aufteilung der Arbeitszeit im “Roman Ciorogariu”: Alle Erzieher:innen arbeiten täglich acht Stunden, wovon sie fünf Stunden direkt mit den Kindern verbringen und die übrigen drei Stunden für Vor- und Nachbereitungen sowie Fortbildungen zur Verfügung stehen. Unterstützt werden die Erzieher:innen stundenweise von Psycholog:innen, wodurch die Qualität der frühkindlichen Bildung zusätzlich gestärkt wird.
Bildung auf dem Land - klein, aber fein
Neben den Bildungseinrichtungen in der Stadt nutzte das Leitungsteam von Kleiner Fratz auch die Gelegenheit, bei einem Ausflug aufs Land einen Eindruck davon zu gewinnen, wie Bildung in ländlichen Regionen Rumäniens gestaltet wird. Grit Nierich beschreibt diesen Besuch als “ein weiteres sehr beeindruckendes Erlebnis während der Erasmus-Reise.” Ziel war eine Dorfschule, etwa zwei Stunden von Oradea entfernt. In der Schule werden jeweils drei Jahrgänge gemeinsam unterrichtet - in kleinen Klassen mit nur acht bis zwölf Kindern. Diese überschaubare Gruppengröße ermöglicht eine sehr persönliche Lernatmosphäre sowie gezielte individuelle Förderung. Eine Schule, die zeigt, dass gute Bildung auch in ländlicheren Regionen mit begrenzten Ressourcen möglich ist.
Eine Begegnung, die bewegt
*Triggerwarnung: Schilderung von Gewalt und Vernachlässigung*
Ein besonders bewegender Programmpunkt - wenn man dies so überhaupt sagen kann, da jeder Programmpunkt auf seine Weise tief berührend war - stellte der Besuch einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung dar. Dort begegnete das Leitungsteam Simona. Grit beschreibt diese Begegnung: “Am meisten beeindruckt haben mich die Gespräche mit einer Überlebenden des Kinderheims Cighid aus der Zeit der Ceausescu-Diktatur. Ihre Geschichte war tief bewegend und sehr eindrucksvoll.” Das Kinderheim Cighid erlangte Anfang der 90er Jahre traurige Berühmtheit. Cighid war eines von vielen Heimen, in welche Kinder mit körperlichen oder geistigen Behinderungen, Entwicklungsverzögerungen oder weil sie unerwünscht waren, abgeschoben wurden. 1989 wurde Cighid von westeuropäischen Journalisten, die daraufhin die erschütternden Zustände in diesem Heim öffentlich machten. In Cighid, einem alten Jagdschloss, waren sechs Leute für 109 Kinder zuständig. Die Kinder waren teilweise halbnackt, unterkühlt, unterernährt, verwahrlost, in verdreckten Räumen, ohne medizinische Versorgung, teilweise ohne Bewegungsfreiheit eingesperrt. In den Medienberichten zu dem Heim wurde von “Euthanasie” und “Sterbelager” gesprochen. Cighid existierte nur etwa zwei Jahre. In diesen zwei Jahren sind 122 Kinder dort ums Leben gekommen. Viele der Überlebenden mussten danach erst lernen, zu laufen, zu weinen, zu lachen und zu sprechen. Im Anschluss an das Gespräch wurde das Leitungsteam von Simona zu sich und ihrer Familie nach Hause eingeladen. Es war “ein Erlebnis, das uns nachhaltig berührte.”
Diese Reise ermöglichte nicht nur einen Blick über den Tellerrand, sondern erweiterte den Horizont auf vielfältige Weise. Sie war bereichernd, lehrreich, berührend und wird nachhaltig in Erinnerung bleiben. Wie tief ein solcher kultureller Austausch wirkt, zeigt die persönliche Reflexion von Grit Nierich: “Für mich bedeuten Erasmus-Reisen vor allem den sprichwörtlichen Blick über den Tellerrand: Man bekommt die Möglichkeit, andere Bildungssysteme kennenzulernen und unterschiedliche Kulturen hautnah zu erleben. Das fördert nicht nur ein besseres Verständnis für andere Länder und ihre Kulturen, sondern hilft auch, Fluchtursachen besser nachvollziehen zu können - und damit auch die Hintergründe und Lebensrealitäten der bei uns betreuten Familien aus eben diesen Ländern besser zu verstehen.”. Ein Erlebnis, das weit über den fachlichen Austausch hinausreicht.








