ein Kommentar: abgedruckt am 20.09.24 im Tagesspiegel: https://www.tagesspiegel.de/berlin/freie-trager-seit-jahren-benachteiligt-warum-verdis-forderungen-berlins-kita-system-kindern-eltern-und-fachkraften-schaden-12405452.html
Warum Verdis Forderungen dem Kita-System, Kindern, Eltern und Fachkräften schaden
Die Forderung der Gewerkschaft Verdi nach einem Entlastungstarifvertrag für kommunale Kita-Träger sorgt nicht nur bei den betroffenen Einrichtungen und Eltern für Verunsicherung, sondern entfacht auch hitzige Diskussionen bei den freien Trägern in Berlin. Dabei betreffen die steigenden Belastungen für Kita-Fachkräfte durch den wachsenden Anteil an Kindern mit besonderen Förderbedarfen sowie die schwierige Personalgewinnung alle Träger gleichermaßen – kommunale wie freie. Doch anstatt diese Herausforderungen gemeinsam anzugehen, fokussiert Verdi einseitig auf kommunale Einrichtungen, ohne die strukturellen Ungleichheiten im gesamten Kita-System zu berücksichtigen.
Verdis pauschalisierte Darstellung führt in die Irre
Verdi zeichnet ein übermäßig dramatisches Bild eines angeblich kurz vor dem Kollaps stehenden Berliner Kita-Systems, das allein durch ihren "Entlastungstarifvertrag" gerettet werden könnte. Diese Fokussierung verkennt jedoch die Realität und gefährdet den Zusammenhalt des Kita-Systems. Besonders bedenklich: Rund 82 % der Kitaplätze in Berlin werden von freien Trägern angeboten, die in Verdis Forderungen keinerlei Berücksichtigung finden. Dies führt nicht nur zu einer Spaltung der Trägerlandschaft, sondern schadet auch den Kindern, Eltern und Fachkräften.
Strukturelle Benachteiligung freier Träger
Freie Träger sind in Berlin seit Jahren strukturell benachteiligt. Ein wesentlicher Aspekt dieser Ungleichbehandlung sind die stark gestiegenen Gewerbemietkosten seit 2017. Freie Träger müssen diese Mehrbelastung nahezu allein tragen, da die Finanzierungsstruktur des Landes Berlin diese Entwicklung nicht berücksichtigt. Im Gegensatz dazu erhalten kommunale Träger finanzielle Zuschüsse vom Berliner Senat, wenn ihre Mittel im laufenden Betrieb aufgebraucht sind – beispielsweise bei der teuren Beschaffung von Personal über Arbeitnehmerüberlassungen. Diese zusätzlichen Ausgaben werden letztlich vom Steuerzahler getragen. In der Öffentlichkeit besonders bekannt ist die Hauptstadtzulage von 150 Euro im Monat, die nur an pädagogische Fachkräfte in kommunalen Kitas gezahlt wird. Hierbei geht es nicht darum, den Beschäftigten in kommunalen Trägern diese Zulage zu missgönnen. Vielmehr sollte darauf geachtet werden, dass freie Träger und deren Teams nicht weiter benachteiligt werden. Die pädagogische Arbeit und der Bildungsauftrag gemäß dem Berliner Bildungsprogramm sind für alle Einrichtungen gleich, unabhängig vom Träger.
Verdis Forderung ist Diskriminierend
Lösung kann nicht darin bestehen, nur den kommunalen Trägern Entlastungen zu gewähren. Sollte Verdi ihre Forderungen durchsetzen, würde dies erneut die Fachkräfte bei den freien Trägern diskriminieren. Dies wäre nicht nur ein Widerspruch zu Verdis eigenen Prinzipien von "gleichem Geld für gleiche Arbeit", sondern untergräbt auch den bundesrechtlichen Grundsatz aus dem Sozialgesetzbuch VIII, der eine pluralistische und partizipative Zusammenarbeit zwischen öffentlicher und freier Jugendhilfe fordert.
Verdis Argumentation ist nicht zielführend
Verdi verweist immer wieder auf den Entlastungstarifvertrag an der Medizinischen Hochschule Hannover als Vorbild. Doch dieser Vergleich hinkt: Berlin ist kein Flächenland wie Niedersachsen, und eine medizinische Hochschule ist keine Kindertagesstätte. Zudem handelt es sich bei den Berliner kommunalen Kitas nicht um Körperschaften des öffentlichen Rechts, sondern um Eigenbetriebe – ein wesentlicher rechtlicher Unterschied.
Reduktion der Gruppengröße erfordert mehr Personal
Eines der Hauptanliegen Verdis ist die Reduzierung der Gruppengrößen in den Kitas. Diese Forderung ignoriert jedoch die Realität: Kurz- und mittelfristig gibt es nicht genug Fachkräfte, um kleinere Gruppen zu betreuen. Die frühkindliche Bildung steht vor ähnlichen Herausforderungen wie andere Branchen – es fehlen schlichtweg Menschen, die diesen Beruf ergreifen können. Statt über den Fachkräftemangel zu klagen, sollten die Ausbildungs- und Weiterbildungsstrukturen für Erzieher:innen in den Fokus gerückt werden. Eine qualitativ hochwertige Ausbildung, die auch Spezialisierungen ermöglicht, ist entscheidend, um den steigenden Förderbedarfen der Kinder gerecht zu werden.
Einseitige Lösungen sind nicht der Weg
Verdis Forderungen berücksichtigen nicht die komplexe Realität des Berliner Kita-Systems. Einseitige Entlastungen für kommunale Träger gefährden das gesamte System. Stattdessen ist eine umfassende Lösung erforderlich, die nur auf der Rahmenvereinbarung über die Finanzierung und Leistungssicherstellung der Tageseinrichtungen für Kinder (RV-Tag) basiert. Nur durch diesen Weg können Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und eine gerechte Entlastung aller Fachkräfte – unabhängig vom Träger – erreicht werden.