Jedes vierte Kind von Armut betroffen. Eine Analyse der erschreckenden Zahlen aus Berlin.

Berlin wird oftmals mit vielen Dingen verbunden: Ein pulsierendes, urbanes Stadtgefühl, in dem Kreativität, Kultur und Lebensfreude aufeinandertreffen. Was wohl die wenigsten mit Berlin direkt in Verbindung setzen würden, ist Kinderarmut. Die Realität, die aktuelle Studien hierzu aufweisen, ist jedoch erschreckend und alarmierend.

In einer schriftlichen Anfrage von Katrin Seidel (Die Linke) an die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie wurden kürzlich erschütternde Statistiken veröffentlicht, die das Ausmaß und die Auswirkungen der Kinderarmut in Berlin im Jahr 2022 beleuchten. Diese Zahlen eröffnen einen tiefen Einblick in die Notwendigkeit, dringende Maßnahmen zu ergreifen, um die Zukunft unserer jungen Generation zu sichern.

Die Zahlen sprechen für sich.

Die statistischen Daten der Senatsverwaltung sind ein Weckruf für die Gesellschaft. Im Jahr 2022 lebten insgesamt 154.889 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Berlin, in Bedarfsgemeinschaften, die Arbeitslosengeld II (ALG II) bezogen, nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II). In 57.859 Fällen handelte es sich um Kinder aus Haushalten, in denen mindestens ein erwerbstätiges Elternteil vorhanden war. Dies zeigt wieder einmal deutlich, dass Kinderarmut nicht nur diejenigen betrifft, deren Eltern arbeitssuchend sind, sondern auch Familien, in denen Erwerbstätigkeit nicht ausreicht, um aus der Armutsspirale herauszukommen. Die Gesamt-Zahl der Betroffenen entspricht etwa einem Viertel aller Kinder und Jugendlichen in der Stadt Berlin. Diese Zahlen sind mehr als bloße statistische Fakten – sie repräsentieren das Leben und die Zukunftschancen junger Menschen.

Bildungsungleichheit ab den ersten Kinderschuhen.

Kinderarmut prägt und formt die Bildungs- und Entwicklungschancen der Betroffenen nachhaltig. Sie hat langfristige Auswirkungen auf ihre beruflichen Chancen und ihre soziale Integration. Geformt wird dies bereits im frühkindlichen Alter.

Laut einer aktuellen Studie des Berliner Instituts für Frühpädagogik und Familienforschung (BIFF) haben nur 40% der Kinder aus armutsgefährdeten Familien Zugang zu Kindertagesstätten, verglichen mit 85% der Kinder aus finanziell gesicherten Haushalten. Dieser erhebliche Unterschied führt schon im kleinsten Alter zu einer Ungleichheit im Bildungsniveau und einem möglichen, nachhaltigen Rückstand für Kinder aus benachteiligten Verhältnissen.


Frühkindliche Bildung als Schlüssel zur sozialen Mobilität.

Frühkindliche Bildung wird oft als ein Schlüssel zur sozialen Mobilität betrachtet, da sie die Grundlage für spätere Bildungserfolge legt. Kinder, die frühzeitig eine qualitativ hochwertige Bildung erhalten, haben bessere Chancen, in der Schule erfolgreich zu sein und später erfolgreiche Berufswege einzuschlagen. Leider haben Kinder aus benachteiligten Familien nicht die gleiche Möglichkeit, von diesem Vorteil zu profitieren. Eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass nur 25% der Kinder aus einkommensschwachen Familien die erforderlichen Bildungsabschlüsse erreichen, während es bei Kindern aus finanziell gut situierten Familien 70% sind. Diese Diskrepanz verfestigt die soziale Ungleichheit und schränkt die Aufstiegschancen der betroffenen Kinder ein.

Alleinerziehende und finanzielle Belastungen

Die Daten verdeutlichen auch die schwierige Lage alleinerziehender Haushalte. Im Dezember 2022 lebten mehr als 70.000 Kinder und Jugendliche in Alleinerziehenden-Bedarfsgemeinschaften, die ALG II bezogen. Diese Haushalte sind oft besonders anfällig für finanzielle Belastungen und stehen vor der Herausforderung, den Lebensunterhalt ihrer Kinder zu sichern.

Multiprofessionelle Teams als Lösungsansatz für Chancengerechtigkeit

Die Herausforderungen der Kinderarmut erfordern eine ganzheitliche Herangehensweise. Die Integration multiprofessioneller Teams in Bildungseinrichtungen ist ein vielversprechender Lösungsansatz. Diese Teams setzen sich aus Fachkräften verschiedener Disziplinen zusammen, um eine umfassende Unterstützung für Kinder und Jugendliche zu gewährleisten. Sie bieten nicht nur pädagogische Betreuung, sondern auch Unterstützung bei sozialen, emotionalen und gesundheitlichen Bedürfnissen. Die vielseitige Expertise dieser Teams kann dazu beitragen, die Bildungsqualität und Chancengerechtigkeit zu fördern.

Die vielen Träger des VKMK arbeiten schon seit Jahren mit genau solchen Teams und unterstreichen durch ihre Eindrucke die Wichtigkeit und Sinnhaftigkeit dieser Zusammensetzung. Einige von ihnen waren Teil des Pilotprojektes "Multiprofessionelle Teams”, ausgearbeitet vom Berliner Kita-Institut für Qualitätsentwicklung, das sich mit den Veränderungen, Problematiken und Chancen bezüglich dieser Thematik beschäftigt hat, um eine optimale Förderung in der frühkindlichen Entwicklung anzustreben.

Einblicke in das Projekt, sowie die Erkenntnisse und Resumées findet ihr hier.

Insbesondere angesichts des aktuellen Fachkräftemangels ist die Entlastung pädagogischer Fachkräfte von nicht-pädagogischen Aufgaben von großer Bedeutung. Gezielte Maßnahmen zur Entlastung können sicherstellen, dass diese Fachkräfte ihre Hauptaufgaben effektiv erfüllen können, während andere Fachkräfte sich um unterstützende Aufgaben kümmern. Dies trägt zur Verbesserung der Bildungsqualität und zur Effizienz der Unterstützungsmaßnahmen bei. Die Integration multiprofessioneller Teams kann dazu beitragen, die Bildungschancen für alle Kinder zu verbessern, unabhängig von ihrer finanziellen Situation.

Investition ist Prävention.  

Um die Prävention von Kinderarmut zu stärken, ist eine gezielte Investition in die Kitasozialarbeit von zentraler Bedeutung. Ein Vorschlag hierfür könnte sein, einen Betrag von 2 Euro pro Kind pro Tag für eine fünftägige Betreuungswoche zu reservieren. Bei rund 190.000 Kitakindern in Berlin würde diese Investition einen bedeutsamen Präventionsfonds bilden. Dieser Fonds könnte gezielt eingesetzt werden, um sozial benachteiligten Kindern frühzeitig zusätzliche Unterstützung zu bieten und ihre Bildungs- und Entwicklungschancen zu verbessern.

Die Umsetzung eines solchen Vorhabens erfordert jedoch eine klare Zielsetzung und einen strukturierten Umsetzungsweg. Bis zum Ende der aktuellen Legislaturperiode sollte das klare Ziel formuliert werden, die Prävention von Kinderarmut durch verstärkte Investitionen in die Kitasozialarbeit zu fördern. Hierzu gehören diverse, zukunftsorientierte Lösungsansätze - wie unter anderem:

  • Eine Bedarfsanalyse: Ermittlung der tatsächlichen Bedürfnisse und Herausforderungen in den Kitas, um die gezielte Unterstützung zu gewährleisten.

  • Der Aufbau innerhalb der Teams: Schaffung von multiprofessionellen Teams, die in den Kitas tätig sind und sozial benachteiligten Kindern individuelle Unterstützung bieten.

  • Fokus auf Qualifizierungen: Weiterbildung der Fachkräfte, um sicherzustellen, dass sie die erforderlichen Fähigkeiten haben, um auf die Bedürfnisse der Kinder angemessen einzugehen.

  • Fortlaufende Evaluierung und Anpassung: Regelmäßige Überprüfung der Wirksamkeit der Maßnahmen und Anpassung des Ansatzes basierend auf den gesammelten Erfahrungen.

Indem wir die Kitasozialarbeit stärken und gezielte Investitionen als Prävention von Kinderarmut einsetzen, setzen wir einen wichtigen Schritt, um die Bildungs- und Zukunftschancen der Kinder in Berlin nachhaltig zu verbessern. Dieser Ansatz sollte als dringendes Ziel bis zum Ende der Legislaturperiode festgehalten und umgesetzt werden.

Ein Appell für die Zukunft

Die vorgelegten Statistiken sind mehr als nur Zahlen – sie sind ein Appell für die Zukunft unserer Kinder. Kinderarmut ist eine Realität, die wir nicht ignorieren können. Es liegt an uns, aktiv zu werden, um eine chancengerechtere Zukunft für alle Kinder in Berlin zu gestalten.

Dieser Appell sollte nicht nur in Worten bestehen, sondern auch in den Haushaltsverhandlungen seinen Platz finden. Hier haben die einzelnen Abgeordneten die Chance und Verantwortung, etwas Nachhaltiges zu verändern. Indem sie gezielt Ressourcen für die Kitasozialarbeit und die Stärkung der multiprofessionellen Teams bereitstellen, können sie einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, die Lebensperspektiven der jungen Generation zu verbessern. Nur durch gemeinsames Handeln können wir sicherstellen, dass die Zukunft Berlins von inklusiver Bildung und gleichen Möglichkeiten geprägt ist.