Die Kunst der Eingewöhnung

Das neue Kita-Jahr ist gestartet und viele Eltern bringen ihren Nachwuchs nun das erste Mal in eine Kindertageseinrichtung. Für viele Familien stellt dies einen großen Schritt und eine sehr sensible Zeit dar: Das Kind verlässt oftmals zum ersten Mal für eine längere Zeit das gewohnte Umfeld familiärer Geborgenheit. Es lernt viele fremde Menschen kennen, zu denen es neue Beziehungen aufbauen darf, und muss gleichzeitig lernen, sich an eine komplett neue Umgebung, mit anderen Regeln, Routinen und Tagesabläufen zu gewöhnen. Doch nicht nur für Kinder ist dies eine Herausforderung. Auch Eltern befinden sich zu dieser Zeit in einem Lern- und Umgewöhnungsprozess: Sie lassen ihr Kind nun das erste Mal los und übergeben es in die Hand einer anderen Person. Da dies eine solch emotionale und sensible Phase ist, die viele Chancen, aber auch Risiken in sich birgt, bedarf es eines besonderen Feingefühls und einer bedachten Herangehensweise, um den Prozess der Eingewöhnung erfolgreich zu gestalten.

Transitionsprozesse in der Eingewöhnung 

Eine erfolgreiche Eingewöhnung ist nicht nur entscheidend für den unmittelbaren Kita-Aufenthalt, sondern auch für das zukünftige Leben des Kindes. Es ist für die meisten Kinder die erste größere Transition, die sie erleben. Nach dem IFP Transitionsmodell von Griebel und Niesel vollzieht sich dieser Übergang auf drei Ebenen: Auf der individuellen Ebene bewältigen Kinder starke Gefühle und entwickeln ein verändertes Selbstbild. Auf der interaktionellen Ebene erleben sie die Trennung von vertrauten Bezugspersonen und müssen neue Beziehungen aufbauen. Auf der kontextuellen Ebene geht es darum, sich in einer neuen, ungewohnten Umgebung zurechtzufinden. Dieser gesamte Prozess ist natürlicherweise mit Stress und Unsicherheiten verbunden. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigten beispielsweise einen deutlichen Anstieg des Stresshormons Cortisol bei Kleinkindern, die von ihren Eltern getrennt werden. Es gibt Wissenschaftler:innen, die sogar von dem Erleben einer echten Krise sprechen. Dabei wird von den Kindern viel Bewältigungsfähigkeit und Resilienz abverlangt. Die Art und Weise, wie Kinder diese erste größere Transition erleben, wie viel Unterstützung und Sicherheit sie dabei erhalten, kann langfristige Auswirkungen auf ihren Umgang mit zukünftigen Übergängen, Stresssituationen und Veränderungen haben. Wichtig ist deshalb, dass das Kind schnell lernt, sichere Bindungen zu seinen neuen Bezugspersonen in der Kita aufzubauen, den Fachkräften. Daher ist es entscheidend, dass das Kind in den Fachkräften Menschen findet, die seine Bedürfnisse wahrnehmen und ihm Verständnis und Unterstützung, vor allem in unangenehmen Situationen, entgegenbringen. Doch nicht nur die Kinder erleben bei der Eingewöhnung eine Transition, sondern auch die Eltern, wie Isabell Springmann, Kindheitspädagogin und Pädagogische Gesamtleiterin und Fachberatung bei W & W Wunderkids Berlin, betont. Sie müssen sich zunächst an die neue Situation gewöhnen, die damit verbundenen Gefühle wie Trauer und Sorge verarbeiten und ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Fachkräften sowie zu den neuen Lebensumständen aufbauen. Die Fachkräfte haben daher die verantwortungsvolle Aufgabe, nicht nur die Kinder einzugewöhnen, sondern auch die Eltern in diesem Prozess einfühlsam zu unterstützen. Wie Eltern mit diesem Übergang umgehen, hat einen erheblichen Einfluss auf den Eingewöhnungsprozess ihrer Kinder. Isabell erklärt: „Eltern sind nicht nur Unterstützer des Übergangs ihrer Kinder, sondern erleben dabei einen eigenen Übergang und haben maßgeblich Einfluss auf eine gelungene Eingewöhnung. Trennungsängste der Eltern können nur durch den Vertrauensaufbau in die Kita und das Fachpersonal abgebaut werden. Dies bildet eine wesentliche Grundlage dafür, dass Kinder dann Bindungen zu den Erzieherinnen aufbauen können.” In diesem Zusammenhang verweist Isabell auch auf das IFP-Transitionsmodell: „Transitionskompetenz ist nach Griebel und Niesel die Kompetenz des gesamten sozialen Systems, sprich aller am Prozess Beteiligten.“ Dies unterstreicht, dass eine erfolgreiche Eingewöhnung nicht nur von den Kindern abhängt, sondern auch von der aktiven Teilnahme und Unterstützung der Eltern sowie der Fachkräfte. Eine gelungene Eingewöhnungsphase, in der alle Parteien harmonisch kooperieren, bildet die Basis für eine starke Bildungs- und Erziehungspartnerschaft und ist entscheidend für einen erfolgreichen frühkindlichen Bildungsprozess. 

Ziele einer erfolgreichen Eingewöhnung

Wie gut die Eingewöhnung funktioniert hat, kann sich unter anderem darin zeigen, ob sich das Kind nach der Trennung von den Eltern von der Fachkraft trösten lässt, ob es sich bereitwillig schlafen legen lässt und ob es sich von der Fachkraft wickeln lässt. Neben dem Erleben von sicheren Beziehungen ist ein weiteres Ziel, dass das Kind sich in seiner neuen Umgebung lernt, zurechtzufinden und sich wohlfühlen kann, dass es die Kita als einen sicheren, geschützten Raum wahrnimmt. Dies bedeutet, dass das Kind Neugierde zeigt, die Räumlichkeiten erkundet, mit anderen Kindern spielt, am Gruppengeschehen teilnimmt und sich an die neuen Regeln und Routinen anpasst. In diesem Kontext betont Isabell Springmann auch die entscheidende Rolle einer gelungenen Eingewöhnung für die weiteren Bildungsprozesse der Kinder: “Kinder benötigen das Gefühl der Sicherheit, das durch eine gute und sichere Bindung zu den pädagogischen Fachkräften entsteht, um sich so frei und sicher zu fühlen, dass sie sich explorieren die Welt aneignen und Bildungsimpulse aufgreifen können. Kurzum, eine gelungene Eingewöhnung ist die essentielle Basis für Bildungsprozesse.” Eine gelungene Eingewöhnung bildet somit nicht nur den Startpunkt, sondern auch das Fundament für eine positive und nachhaltige Entwicklung der Kinder.

Die Folgen mangelnder Eingewöhnung

Wie wichtig eine sanfte Eingewöhnung ist, konnten bereits verschiedene Studien aufzeigen, darunter auch Untersuchungen eines Berliner Forschungsteams um H. J. Laewen und B. Andres. In ihrer Studie wiesen sie nach, dass eine unzureichende Eingewöhnung erhebliche gesundheitliche, verhaltensbezogene und entwicklungspsychologische Folgen für Kinder haben kann. Kinder, die ohne angemessene Eingewöhnung in die Kita kommen, waren demnach in den ersten Monaten ihres Kita-Besuchs bis zu viermal häufiger krank. Zusätzlich zeigten Kinder, die nicht ausreichend eingewöhnt werden, verstärkt ängstliches Verhalten. Diese Kinder hatten Schwierigkeiten, sich in ihre neue Umgebung einzufinden und Bindungen aufzubauen. Besonders gravierende machten sich diese Auswirkungen bei Kindern unter zwei Jahren bemerkbar. 

Der Weg zur gelungenen Eingewöhnung

Die Eingewöhnung ist von Kita zu Kita meist unterschiedlich und auch abhängig von den der Kita zur Verfügung stehenden Ressourcen. Dennoch gibt es ein paar allgemeingültige Faktoren, die essentiell für eine gelungene Eingewöhnung sind. In den meisten Fällen ist zu Beginn eine, beziehungsweise nur wenige Fachkräfte für das Kind zuständig, damit es nicht überfordert wird und erstmal eine sichere und stabile Bindung zu einer fremden Person aufbauen kann, bevor weitere Personen ins Spiel kommen. Dabei sind intensive Gespräche und eine enge Zusammenarbeit mit der Familie wichtig, damit die Fachkraft sowohl das Familienkonzept, als auch die Form der bisher erlebten Beziehungen und die individuellen Bedürfnisse des Kindes kennen und verstehen lernt. Insbesondere in Berlin ist dabei der Umgang mit der Vielfalt von Familien ein sehr wichtiger Aspekt in diesem Prozess, da unsere Gesellschaft eine breite Palette an unterschiedlichsten Familienkonzepten aufzuweisen hat. Die Reflexion über das eigene Bild von Familien und die Offenheit gegenüber verschiedenen kulturellen Hintergründen sind entscheidend, um die unterschiedlichen Lebenswelten der Familien besser zu verstehen und anzuerkennen. Mit diesen Erkenntnissen kann dann der Eingewöhnungsprozess in der Kita an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst werden. Die Eingewöhnung selbst ist ein strukturierter Prozess, der vom pädagogischen Team sorgfältig geplant und ausgeführt wird. Optimalerweise werden pro Woche nur wenige Kinder neu aufgenommen, um das Team nicht zu überlasten und den Kindern genügend individuelle Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Personalressourcen dafür zur Verfügung stehen. In den ersten Tagen sollte dann das Kind von einem Elternteil begleitet werden. Nach und nach wird diese Zeit reduziert, bis das Kind das erste Mal alleine Zeit in der Kita verbringt. 

Modelle der Eingewöhnung

Um die Eingewöhnung gut zu strukturieren, wird in sehr vielen Kitas auf zwei etablierte Eingewöhnungmodelle zurückgegriffen: Das Berliner und das Münchener Eingewöhnungmodell. 

Das Berliner Eingewöhnungsmodell wurde von dem bereits erwähnten Forschungsteam um Laewen und Andres entwickelt. Es umfasst fünf Phasen, die einen sanften, bedürfnisorientierten, strukturierten und gleichzeitig flexiblen Übergang in die Kindertagesstätte ermöglichen.

1. Informationsphase: Zu Beginn tauschen sich Eltern, bzw. die Bezugspersonen, und Fachkräfte über die Bedürfnisse, Gewohnheiten und Vorlieben des Kindes aus. Gleichzeitig wird der Ablauf der Eingewöhnung erklärt, um Transparenz und Vertrauen zu schaffen.

2. Grundphase: Das Kind besucht für ein bis zwei Stunden täglich mit einem Elternteil die Kita, um die Umgebung und Routinen, wie den Morgenkreis, kennenzulernen. Die Fachkraft nimmt behutsam Kontakt zum Kind auf, während das Elternteil sich im Hintergrund hält, aber bei pflegerischen Aufgaben aktiv bleibt. Das Modell legt dabei großen Wert auf die Bedürfnisse der Kinder: Wenn das Kind zunächst alles aus der Nähe seiner Bezugsperson beobachten möchte, wird dies dementsprechend respektiert und unterstützt.

3. Erster Trennungsversuch: Nach der Grundphase erfolgt der erste Trennungsversuch, bei dem sich das entsprechende Elternteil für etwa eine halbe Stunde verabschiedet. Die Reaktion des Kindes spielt dabei eine entscheidende Rolle für den weiteren Verlauf der Eingewöhnung. Zeigt das Kind wenig Trennungsangst oder lässt sich schnell beruhigen, kann die Eingewöhnung in etwa einer Woche abgeschlossen werden. Andernfalls wird die Eingewöhnung auf zwei Wochen oder länger verlängert. Nach dem Berliner Eingewöhnungsmodell geht das Verhalten der Kinder auf ihren Bindungstyp zurück: Einem sicher gebundenen Kind wird die Trennung schwerer fallen, während ein unsicher gebundenes Kind sich schneller in der neuen Umgebung zurechtfindet. In dieser Phase ist es für die Bezugsperson wichtig, ihrem Kind Sicherheit zu vermitteln, auch wenn ihnen dieser Schritt ebenfalls schwerfällt.

4. Stabilisierungsphase: In dieser Zeit zieht sich das Elternteil zunehmend zurück, während die Fachkraft den Kontakt zum Kind intensiviert und es stärker in den Kita-Alltag einbindet. Je nach Reaktion des Kindes wird die Anwesenheit der Bezugsperson weiter reduziert, bis es nur noch gebracht und abgeholt wird. Bei Kindern, bei denen der Trennungsversuch nicht erfolgreich war, wird diese Phase verlängert, bis ein erneuter Trennungsversuch nach einer Woche unternommen wird.

5. Schlussphase: Das Kind kann nun mehrere Stunden täglich allein in der Kita verbringen, ist integriert und hat bereits stabile Beziehungen zu den Fachkräften und anderen Kindern aufgebaut. Die Eltern sind nur noch für Notfälle erreichbar. Für die Fachkräfte bedeutet dies jedoch nicht das Ende der Eingewöhnung, denn sie müssen weiterhin das Vertrauen des Kindes festigen.

Das Münchener Eingewöhnungsmodell wurde von dem Entwicklungspsychologen Kuno Beller und seinem Team entwickelt. Auch dieses Modell zielt darauf ab, den Übergang des Kindes in die Kindertagesstätte möglichst sanft und auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmt zu gestalten. Allerdings legt es einen stärkeren Fokus auf die Einbeziehung der Eltern, bzw. der Bezugspersonen, in den Kita-Alltag in den ersten Phasen und ist auf einen Zeitraum von vier bis fünf Wochen angelegt:

1. Vorbereitungsphase: Ähnlich wie im Berliner Modell findet zu Beginn ein Austausch zwischen den Fachkräften und den Eltern des Kindes über wichtige Informationen zum Kind und zur Gestaltung der Eingewöhnung statt.

2. Kennenlernphase: Das Kind verbringt eine Woche täglich mehrere Stunden mit einem Elternteil in der Kita, um die Abläufe und Routinen kennenzulernen, ohne dass eine Trennung stattfindet. Die Fachkraft hält sich zunächst zurück.

2. Sicherheitsphase: Das Elternteil bleibt weiterhin mehrere Stunden mit dem Kind in der Kita, jedoch zieht es sich zunehmend zurück. Währenddessen übernimmt die zuständige Fachkraft allmählich immer mehr pflegerische Aufgaben und beginnt, einen vertrauensvollen Kontakt zum Kind aufzubauen.

3. Vertrauensphase: Der erste Trennungsversuch erfolgt in der dritten oder vierten Woche. Reagiert das Kind positiv, wird die Trennungszeit schrittweise verlängert. Hat das Kind Schwierigkeiten, wird der Versuch nach einigen Tagen wiederholt..

4. Reflexionsphase: In der letzten Phase reflektieren Fachkraft und Eltern den gesamten Eingewöhnungsprozess und besprechen Aspekte, die in Zukunft weiterhin beachtet werden sollten. Im Münchener Modell finden solche Gespräche während des gesamten Prozesses regelmäßig statt, um eine solide Bildungs- und Erziehungspartnerschaft zwischen der Kita und den Eltern/Bezugspersonen zu etablieren.

Die Eingewöhnung ist ein überaus anspruchsvoller und vielschichtiger Prozess, der Geduld, Feingefühl, Empathie und Vertrauen von allen Beteiligten erfordert. In diesen sensiblen Wochen wird der Grundstein für Bildungsprozesse und zukünftige Übergänge im Leben der Kinder gelegt. Die Art und Weise, wie Kinder, Eltern und Fachkräfte miteinander interagieren, hat nachhaltige Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder und ihren Umgang mit Veränderungen. Der VKMK möchte sich daher bei allen Fachkräften bedanken, die mit ihrem Engagement dafür sorgen, dass jedes Jahr neue Kinder erfolgreich in unsere Kitas eingewöhnt werden und positive Bindungserfahrungen machen dürfen. Ihre Arbeit trägt maßgeblich dazu bei, dass die neuen Kita-Kinder bestens auf ihren weiteren Lebensweg und zukünftige Übergangssituationen vorbereitet werden. Gleichzeitig fordert der VKMK von der Politik eine stärkere Unterstützung für diese essenzielle Arbeit. Es ist dringend erforderlich, die Rahmenbedingungen durch eine verbesserte Personalausstattung zu optimieren, um den Fachkräften die Entlastung und Zeit zu bieten, die sie benötigen, um ihre Arbeit qualitativ hochwertig ausführen zu können. Nur durch eine starke Zusammenarbeit und das Verständnis für die Komplexität der Eingewöhnung kann sichergestellt werden, dass Kinder in einem Umfeld aufwachsen, in dem sie positive Erfahrungen sammeln können.


Quellen: 

Ahnert, L. et. al. (2004): Transition to Child Care: Association With Infant-Mother Attachement, Infant Negative Emotion and Cortisol Elevation. In: Child Development. 75.

Braukhane, K. & Knobeloch, J. (2003). Das Berliner Eingewöhnungsmodell – Theoretische Grundlagen und praktische Umsetzung. In KiTa Fachtexte [Journal-article].  https://www.kita-fachtexte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/KiTaFT_Braukhane_Knobeloch_2011.pdf. 

Griebel, Wilfried und Renate Niesel, 2017. Übergänge verstehen und begleiten: Transitionen in der Bildungslaufbahn von Kindern. 4. Auflage. Berlin: Cornelsen. 

Laewen, H. J. (1989), Nichtlineare Effekte einer Beteiligung von Eltern am Eingewöhnungsprozeß von Krippenkindern. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht. 36(2).

Laewen, H. J.; Andres, B. & Hédervári, É. (2006): Ohne Eltern geht es nicht. Die Eingewöhnung von Kindern in Krippen und Tagespflegestellen. Berlin: Cornelsen Scriptor, 4. Auflage.

S, Christiane. (2024, 11. Juli). Eingewöhnungsmodelle: das Münchener und das Berliner  Modell. Wissen. https://www.kita.de/wissen/eingewoehnungsmodelle/#google_vignette.

Wustmann, C., 2004. Resilienz: Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Weinheim und Basel: Beltz.