Sprache für alle: Wie Gebärdenunterstützende Kommunikation Sprachbarrieren in der Kita überwindet

Wenn über Vielfalt und Teilhabe gesprochen wird, stehen heutzutage meist unterschiedliche Herkunft, Religion und sozialer Status im Mittelpunkt des Diskurses - hoch relevante Aspekte, die im pädagogischen Alltag und der Bildungspolitik stets präsent und eng mit der Frage verbunden sind, wie man allen Kindern gerecht werden und ihnen die Unterstützung bieten kann, die sie benötigen. 

Dabei geraten jedoch Gruppen aus dem Blick, die ebenso Teil der Vielfalt unserer Gesellschaft sind und besondere Unterstützung brauchen, um Teilhabe erfahren zu können: Kinder mit Hörstörungen, Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen, Kinder mit Mutismus sowie Kinder, die allgemein Schwierigkeiten mit dem Sprechen und Hören haben.

Der Anteil dieser Kinder ist keineswegs gering: Nach Einschätzungen des Bundesministeriums für Gesundheit sind rund 80.000 Kinder von einem stark eingeschränkten Hörvermögen betroffen. Laut der Krankenkasse Barmer haben knapp 14% der Kinder Entwicklungsstörungen in Sprache und Sprechen, und etwa 1% der Kinder erhalten nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik die Diagnose Mutismus. Nimmt man zudem die Kinder hinzu, die Deutsch nicht als Muttersprache sprechen, stellt sich in Kitas unweigerlich die Frage: Wie kann die Teilhabe all dieser Kinder ermöglicht werden? Wie können Brücken der Verständigung gebaut werden? Wie lassen sich ihre unterschiedlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten so berücksichtigen, dass alle Kinder aktiv und gleichberechtigt am Alltag partizipieren können?

Anlässlich des Internationalen Tags der Gebärdensprache möchte der VKMK - Der Kitaverband ein Beispiel vorstellen, wie solche Sprachbarrieren im Kita-Alltag überwunden werden können. Hierfür haben wir mit dem Experten Peter Mehls, Kitaleiter einer Einrichtung des VKMK-Mitglieds Kleiner Fratz GmbH, gesprochen. In seiner Kita wird bereits seit mehreren Jahren gebärdenunterstützende Kommunikation (GuK) praktiziert. „Wir haben 2018 GuK reflektiert und als sinnige, verständlich und umsetzbar für unsere Kita bewertet.” berichtet Herr Mehls. Heute gewährt Herr Mehls uns einen Einblick in den Alltag mit GuK, zeigt, wie auf diese Weise echte Chancengerechtigkeit entstehen kann und macht deutlich, was Gebärdensprache für ihn bedeutet:

„Wenn ich über Gebärdensprache nachdenke, denke ich an Chancengleichheit, an Grenzen übergreifende Kommunikation und an Inklusion. Gebärden sehe ich als ein Instrument der Kommunikation, welches die Chance gibt, eine Brücke zur gesellschaftlichen Teilhabe zu bilden.

Der Unterschied zwischen Gebärdensprache und Gebärdenunterstützende Kommunikation

Gebärdenunterstützende Kommunikation und Gebärdensprache sind - trotz der gemeinsamen Nutzung von Gebärden - zwei sehr unterschiedliche Formen des Ausdrucks. Gebärdensprache ist eine eigenständige Sprache und für viele Menschen die Muttersprache. Sie verfügt über eine eigene Grammatik, einen eigenen Satzbau und einen eigenständigen Wortschatz. Ähnlich wie in der Lautsprache gibt es auch in der Gebärdensprache unterschiedliche Dialekte. Gebärdenunterstützende Kommunikation hingegen ersetzt die Lautsprache nicht, sondern ergänzt sie. Die verwendeten Gebärden stammen meist aus der Gebärdensprache, folgen jedoch der Grammatik und dem Satzbau der Lautsprache. 

GuK: Eine Brücke, wenn Worte nicht reichen

„Der Fokus bei Gebärdenunterstützende Kommunikation liegt auf dem Aspekt der Unterstützung.” erklärt Peter Mehls. “Die durch Gebärden entstehende nonverbale Kommunikation sehen wir als Erweiterung der verbalen Sprache und somit als ein Instrument der Teilhabe. GuK ist kein Ersatz für verbale Sprache, sondern soll helfen, wo verbale Sprache für die eigenen Bedürfnisse nicht reicht.” Wie wichtig dieser Ansatz für die Vielfalt unserer Gesellschaft, die individuellen Bedürfnisse von Kindern und den Kita-Alltag ist, zeigt sich auch in der Intention, die hinter der Implementierung von GuK im Kleinen Fratz steht. „Zu gegebener Zeit haben wir unseren Umgang mit Sprachbarrieren reflektiert. Kinder, die die verbale Sprache nicht sprechen konnten, wollten oder der Gebrauch durch anderweitige Gründe nicht zustande kam, hatten so eine Kompensationsmöglichkeit. Gleichzeitig erlaubt der spielerische Umgang mit Gebärden, dass Sprachgebrauch und Leistungsdruck nicht den Spracherwerb und die Sprachfreude tangieren.”, beschreibt Herr Mehls. 

Von der Idee zur Umsetzung

Gebärdenunterstützende Kommunikation ist weder im Kita-Alltag noch in der Ausbildung zur pädagogischen Fachkraft flächendeckend Standard. Dementsprechend war die Einführung von GuK im Kleinen Fratz keine Nebensächlichkeit, sondern ein großes Vorhaben, das viel Engagement von den Fachkräften verlangte: „Wir haben von Beginn an transparent gemacht, das Gebärden unterstützte Kommunikation ein Projekt ist, welches davon lebt, dass das Team an einem Strang zieht.” beschreibt Herr Mehls und macht deutlich, dass GuK nicht nur ein Lern- und Übungsprozess für die Kinder war, sondern ebenso für das ganze Team:

“So begann die Arbeit der Fachkräfte bei der Vorbereitung des Projekts. Die Auswahl der Gebärden sollte sinnig und angepasst auf den Kitaalltag sein und man sollte sich die Haltung aneignen, mit Fehlerfreundlichkeit zusammenzuarbeiten. Es ist ein Übungsprozess für alle Beteiligten und ähnlich wie bei den Kindern soll das Ganze als einfache Erweiterung der verbalen Sprache gesehen werden, eine Art Sprache, um Verständlichkeit zu spiegeln, ohne Druck und Angst zu vermitteln.” 

Wie GuK fester Teil des Kita-Alltags wurde

Die Integration von gebärdenunterstützender Kommunikation in den Kita-Alltag geschieht natürlich nicht von einem Tag auf den anderen. Deshalb entwickelte das Kita-Team eine Methode, um GuK nach und nach sowohl den Kindern als auch den Fachkräften nahezubringen und sie Schritt für Schritt zu einer Selbstverständlichkeit in der Kommunikation werden zu lassen. 

Herr Mehls  erinnert sich an die Anfangsphase: „Als wir mit GuK angefangen haben, haben wir dem Ganzen einen spielerischen Projektcharakter gegeben. Durch eigeninitiativ gestaltete passende Kinderspiele, Verbildlichung im Kindergarten und routiniertes Einsetzen ausgewählter Gebärden wurde so die Verwendung dieser interessant gemacht und wertschätzend begleitet. Der Projektcharakter diente zur Übung der Fachkräfte und Kinder, einige Gebärden mit Spaß und Sicherheit anzuwenden. Ziel des Projektes war es, dass der Projektcharakter verschwindet und Gebärden routiniert, autonom und alltagsintegriert bei Bedarf verwendet werden.” 

Heute, sieben Jahre später, zeigt sich, dass dieses Ziel erreicht wurde: die Integration von gebärdenunterstützender Kommunikation im Alltag der Kita ist ein voller Erfolg und inzwischen fest etabliert: „Die Anwendung funktioniert alltagsintegriert und situativ durch den Austausch und die Arbeit am Kind.” schildert Mehls und hebt dabei besonders den Gewinn für die Kinder hervor: “Der Kitaalltag ist stark geprägt von strukturellen Gegebenheiten, welche täglich im Einklang mit Bedürfnissen und Wünschen der Kinder stehen. Wir können über leicht verständliche Gebärden den Kitaalltag transparent machen, so Sicherheit bieten und Kindern gerecht werden.”

GuK: Eine Kommunikationsform, die niemanden ausschließt

Gebärdenunterstützende Kommunikation ist auch ein wichtiges Instrument, um Kindern Berührungsängste zu nehmen, sie für unterschiedliche Bedürfnisse zu sensibilisieren und ihnen zu zeigen, dass Unterschiede nicht trennen - sondern dass es immer Wege gibt, respektvoll miteinander umzugehen.

Die Gebärden unterstützte Sprache ist eine allgemeingültige Sprache, welche allgemeingültiges Wertschätzen dementsprechend ermöglicht. Die Kinder lernen spielerisch die Vorteile der Inklusion und lernen, dass Barrieren auch zu Chancen führen können. Sie bietet eine hervorragende Möglichkeit, Ängste gegenüber „fremder“ Sprachen abzubauen. Dies bedeutet, dass die Kinder auch passiv lernen, dass Offenheit und Wertschätzung gegenüber Individualität etwas Wertvolles ist. Man kann stets voneinander lernen und falls man nicht weiterkommt, gibt es Möglichkeiten. So wie die Kinder oftmals wortlose Mimik als Ausdruck von Gefühlen verstehen, verstehen sie alltagsintegrierte Gebärden als Ausdruck von Bedürfnissen und Interessen.” 

Angst abbauen - Sprachfreude fördern

Neben dem Aspekt des inklusiven Miteinanders, ist gebärdenunterstützende Kommunikation natürlich auch auf individueller Ebene sehr gewinnbringend und hilft Kindern, sich zugehörig zu fühlen. Kitaleiter Peter Mehls verdeutlicht uns dies anhand eines Beispiels:  „Neben den schon genannten Aspekten hat GuK den positiven Effekt, dass unverständliche Sprache seine Bedrohlichkeit verliert. Stellen Sie sich als Leser:in vor, sie wären in einem Raum und müssten mit einer Gruppe von 10 bis 20 Mitmenschen den Alltag bewältigen, Aufgaben bewältigen und Erwartungen erfüllen. Nun ist es aber leider so, dass Sie niemanden verstehen, sprich alles sich kryptisch anhört. Diese Position kann Angst machen, vor allem wenn man jetzt bedenkt, dass wir von Kleinkindern ausgehen, welche die Welt erstmal für sich begreifen müssen. Spracherwerb sollte mit Sprachfreude einhergehen und motorische spielerische Bewegungen unterstützen dabei, Druck zu lösen, ohne die Teilhabe zu tangieren.”

Wachsen Kinder bereits mit der selbstverständlichen Verwendung von gebärdenunterstützender Kommunikation auf, erfahren sie, dass Verständigung viele Wege haben kann und dass Sprachbarrieren keine Hindernisse darstellen müssen. Kinder fühlen sich nicht ausgeschlossen oder unter Druck gesetzt, nur weil sie die deutsche Sprache nicht perfekt sprechen oder verstehen können, sondern können trotzdem gleichberechtigt am Alltag teilnehmen. GuK ist eine Kommunikationsform, der Wertschätzung und Respekt gegenüber der Vielfalt inhärent ist - es ist eine Sprache der Teilhabe und der gelebten Inklusion. Damit dieser Ansatz in mehr Kitas zum Standard wird und viele Kinder erreicht, wünscht sich Herr Mehls abschließend eine größere Aufmerksamkeit für GuK:

„Wir würden uns im Allgemeinen wünschen, dass Gebärden unterstützte Kommunikation präsenter in Ausbildungen behandelt wird. Ich glaube dass es viele Fachkräfte gibt, welche schlicht nicht wissen, dass Gebärden unterstützte Kommunikation als Teil der Sprachförderung existiert.”









Quellen: 

BARMER Arztreport: Kinder mit ambulant dokumentierten Diagnosen nach Top-ICD-10-Dreistellern : F80 Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache. (n.d.). Bifg. BARMER Institut Für Gesundheitssystemforschung. https://www.bifg.de/publikationen/reporte/arztreport/arztreport-kinderatlas-ambulante-diagnosen-nach-top-icd-10-dreistellern

Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit Kinder. (2022, January 26). gesund.bund.de. https://gesund.bund.de/schwerhoerigkeit-und-gehoerlosigkeit-bei-kindern#quellen

Die Stille sichtbar machen: 21. Mutismus-Tagung im September in Erfurt. (2025, March 17). WortMelder. Universität Erfurt. https://www.uni-erfurt.de/forschung/aktuelles/forschungsblog-wortmelder/die-stille-sichtbar-machen-21-mutismus-tagung-im-september-in-erfurt#:~:text=Pia%20Zucht:%20Die%20Deutsche%20Gesellschaft,Prozent%20sogar%20noch%20etwas%20h%C3%B6her..